„Aussöhnung des Gesetzes mit seinem Beleidiger“ – zur Soziologie des Verbrechens in Schillers „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“

Als Schiller von 1773 bis 1775 auf der Stuttgarter Carlsschule auf Geheiß des württembergischen Herzogs Carl Eugen Rechtswissenschaften studierte, lernte er bei seinem Lehrer, dem Stuttgarter Anwalt Georg Friedrich Heyd, das damals geltende Strafrecht. Es beruhte wesentlich auf der “Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs“ von 1532 („Carolina“) und der von Herzog Christoph (auch: „Christoff“) von Württemberg (1515 – 1568) erlassenen Württembergischen Landesordnung von 1567. Danach zielte Strafe auf Sühne, Vergeltung und Stigmatisierung des Täters. Wer sich schwerer oder wiederholter Vergehen schuldig machte, musste ausgemerzt, also mittels der Todesstrafe aus dem Leben gebracht werden. Davon versprach man sich nicht nur eine dauerhafte Befreiung vom Täter, sondern vor allem einen maximalen Abschreckungseffekt für die Allgemeinheit.

Schiller war anderer Auffassung: „Einen Menschen aus dem Lebendigen vertilgen, weil er etwas Böses begangen hat, heißt ebenso viel, als einen Baum umhauen, weil eine seiner Früchte faul ist“, sagt er in seiner Vorlesung „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“ (Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G./Stubenrauch, Herbert (Hrsg.), Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Carl Hanser, München 1958 f., Band 4, S. 821, zitiert nach Breucker, Marius (Hrsg.), Schiller für Juristen, Scribo Verlag, Steinenbronn 2015, S. 110). Diesen Gedanken bezog Schiller aber nicht nur auf die Todesstrafe, sondern auf alle damals exerzierten drakonischen Strafen und auf den gesamten Umgang mit Straftätern. Schiller sah auch im Delinquenten einen Menschen, der unveräußerliche Grundrechte hat und den es in erster Linie zu resozialisieren gilt.

Diese damals revolutionären Gedanken finden sich an vielen Stellen, exemplarisch im späten Drama „Maria Stuart“ (1800). Aber auch und gerade der junge Schiller setzte sich mit den Rechten des Angeklagten und dem Verhältnis der Gesellschaft zum Straftäter intensiv auseinander. Mit dem 1786 veröffentlichten „Verbrecher aus Infamie“ widmete er dem Thema eine ganze Erzählung, die später unter dem geläufigeren Titel „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ erschien.

Von B. Wells, nach Wilhelm von Breitschwert – eingescannt aus: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Band 1.2, Stuttgart 1987, ISBN 3-922608-44-2, S. 1014, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1889660

Kriminalpsychologie und Kriminalsoziologie

Im „Verbrecher aus Infamie“ skizziert Schiller im distanzierten Duktus eines gerichtlichen Untersuchungsverfahrens die psychologischen und soziologischen Ursachen, die einen Menschen zum Täter werden lassen. Yvonne Nilges arbeitet in ihrer 2012 erschienenen Heidelberger Habilitation „Schiller und das Recht“ heraus, dass die Betrachtung eines Verbrechers als „Mensch“ der damaligen Auffassung widersprach, wonach ein Verbrecher ein genetisch veranlagter und daher unbelehrbarer „Bösewicht“ sei, der von der Gesellschaft ausgeschlossen werden müsse (Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, 2012, Seiten 37 ff.).

Schiller spürt stattdessen auf, dass ein Mensch durch gesellschaftliche Ausgrenzung, überharte Verurteilung und damit verbundener Stigmatisierung erst (recht) zu einem solchen „Bösewicht“ gemacht werde. Der so ausgegrenzte „Unhold“ findet seine Identität in der Rolle, die ihm die Gesellschaft zugewiesen hat und setzt sich bewusst über die Normen der Gesellschaft hinweg, da ihm diese keinen Platz mehr bietet. Im Gegenteil: Wenn die Gesellschaft den Betroffenen als Außenseiter qualifiziert, dann entspricht die (weitere) Normverletzung gerade der gesellschaftlichen Erwartung: „Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze. Zähneknirschend rieb ich meine Ketten, wenn die Sonne hinter meinem Festungsberg heraufkam; eine weite Aussicht ist zwiefache Hölle für einen Gefangenen. Der freie Zugwind, der durch die Luftlöcher meines Turmes pfeifte, und die Schwalbe, die sich auf dem eisernen Stab meines Gitters niederließ, schienen mich mit ihrer Freiheit zu necken und machten mir meine Gefangenschaft desto gräßlicher. Damals gelobte ich unversöhnlichen glühenden Haß allem, was dem Menschen gleicht, und was ich gelobte, hab ich redlich gehalten.“ (Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G./Stubenrauch, Herbert (Hrsg.), Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Carl Hanser, München 1958 f., Band 5, 18 f.; zitiert nach Breucker, Marius (Hrsg.), Schiller für Juristen, Scribo Verlag, Steinenbronn 2015, S. 63)

Gesellschaftliche Prägung: Erwartung – Normverletzung – Ausgrenzung

Schiller beschreibt wie Christian Wolf, der spätere „Sonnenwirt“, durch unglückliche Physiognomie benachteiligt, aufgrund verschmähter Liebe gekränkt, der Wilderei nachgeht, um der Verehrten Geschenke machen zu können. Zugleich war die Wilderei in der einfachen Bevölkerung eine bis zu gewissem Grade akzeptierte Auflehnung gegen die als ungerecht empfundenen, umfassenden landesherrlichen Jagdrechte. Durch die geschickt ausgeübte, unentdeckte Wilderei erhofften sich junge Männer gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Schillers Christian Wolf aber wird entdeckt und bestraft – und dennoch mehrfach rückfällig. Die anschließenden drakonischen und stigmatisierenden Strafen entfremden ihn zunehmend von der Gesellschaft.

Schiller-Schattenriss - auf Marius Breucker WP Blog zum Beitrag - Die Luft in einem englischen Gefängnis

Die Festungshaft endlich löst alle Bindungen auf. So lässt Schiller ihn selbst berichten, „wie er nachher gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gericht bekannt hat: »Ich betrat die Festung«, sagte er, »als ein Verirrter und verließ sie als ein Lotterbube. Ich hatte noch etwas in der Welt gehabt, das mir teuer war, und mein Stolz krümmte sich unter der Schande. Wie ich auf die Festung gebracht war, sperrte man mich zu dreiundzwanzig Gefangenen ein, unter denen zwei Mörder und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren. […] Anfangs floh ich dieses Volk und verkroch mich vor ihren Gesprächen, so gut mirs möglich war, aber ich brauchte ein Geschöpf, und die Barbarei meiner Wächter hatte mir auch meinen Hund abgeschlagen. Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich, ich brauchte Beistand, und wenn ichs aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedaurung, und diese mußte ich mit dem letzten Überrest meines Gewissens erkaufen. So gewöhnte ich mich endlich an das Abscheulichste, und im letzten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen.«“ (Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G./Stubenrauch, Herbert (Hrsg.), Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Carl Hanser, München 1958 f., Band 5, 18 f.; zitiert nach Breucker, Marius (Hrsg.), Schiller für Juristen, Scribo Verlag, Steinenbronn 2015, S. 62)

Schritt für Schritt zeichnet Schiller in seiner Erzählung die gesellschaftlich geprägte Entwicklung des – nicht zufällig „Christian Wolf“ genannten – Protagonisten nach, den er nicht zu entschuldigen, aber doch zu verstehen sucht. Und der entscheidende Anstoß, dass die Gesellschaft den „Sonnenwirt“ verliert, sieht Schiller in der gesellschaftlichen Ächtung selbst: Er beschreibt die Verfehlungen des Delinquenten ohne Beschönigung und ist weit davon entfernt, ihn von eigener Verantwortung loszusprechen. Ebenso deutlich aber benennt Schiller die (Mit-) Verantwortung der Gesellschaft, denn „erst die Verachtung, die er nach Entlassung aus der Haft erfährt, erst das Ehrloserklärtwerden, das Ausgestoßensein aus den Ordnungen menschlicher Gemeinschaft lässt ihn zum Mörder werden“ (Bernhard Zeller, Nachwort, in: Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, Stuttgart 1999, S. 74).

Etikettierungsansatz – „labeling approach“

Mit seiner Analyse der gesellschaftlichen Einflüsse auf die Genese von Taten und Tätern nimmt Schiller Erkenntnisse der Kriminalsoziologie, namentlich des „Etikettierungsansatzes“ vorweg, worauf Yvonne Nilges in ihrer Habilitation zu recht hinweist (Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, 2012, Seiten 80 ff.). Der „Etikettierungsansatz“ oder „labeling approach“ wurde im Jahr 1938 von Frank Tannenbaum mit dem Satz beschrieben „The young delinquent becomes bad because he is defined as bad“. Dieser Gedanke wurde von Howard S. Becker in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgegriffen. Er formulierte 1963 im Buch „Outsiders“: „Deviance is not a quality of the act the person commits, but rather a consequence of the application by others of rules and sanctions to an ‚offender.‘ The deviant is one to whom the label has successfully been applied; deviant behavior is behavior that people so label”. Schiller arbeitete diese Gedanken im 18. Jahrhundert heraus, als die herrschende Auffassung im Straftäter schlicht ein zu brandmarkendes, wegzuschließendes und erforderlichenfalls zu vernichtendes Übel sah.

Schiller für Juristen von - Marius Breucker (Hrsg.) - Cover

Schillers Ansatz kann getrost als Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Dabei kamen ihm seine Rechtskenntnisse aus dem zweijährigen Jurastudium an der Carlsschule zu Gute, die sich mit seinem psychologischen Einfühlungsvermögen und seinem Blick auf gesellschaftliche Einflüsse paarten. Auch wenn an der Carlsschule noch im Sinne des absolutistischen Herzogs Carl Eugen das überkommene Recht gelehrt wurde, so wusste Schiller doch, wovon er sprach und konnte sich seine Rechtsauffassung gleichsam als Gegenmodell zum überkommenen, mit der Aufklärung ins Wanken geratenden Vergeltungsstrafrecht bilden. Schiller zeigt sich in seiner Erzählung als „Kenner des »geheimen Räderwerks«, nach dem die Gesellschaft handelt und antizipiert damit hellsichtig eine weitere Entwicklung, für die es beinahe zweier Jahrhunderte bedurfte“ (Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, 2012, Seite 80).

Berichtsstil – Distanzschaffende Erzähltechnik

Schiller führt in seinem „Verbrecher aus verlorener Ehre“ nicht nur neue kriminalpsychologische und –soziologische Gedanken, sondern auch eine neue Erzähltechnik ein: Durch den sachlich-nüchternen Berichtsstil schafft er eine quasi–wissenschaftliche Distanz zum „Verbrecher“ und ermöglicht dadurch eine unvoreingenommene Betrachtung und Analyse. Indem der Erzähler gemeinsam mit dem Leser einen Schritt zurücktritt, kann er aus der vergrößerten Distanz im Protagonisten Christian Wolf nicht nur den berüchtigten „Sonnenwirt“, sondern auch den Menschen sehen, der nach und nach erst zum Verbrecher („gemacht“) wird. „Mit objektiver Distanz verfolgt Schiller den Weg des Ebersbacher Gastwirtssohns, beobachtet und motiviert Schritt für Schritt seine Entwicklung zum Verbrecher“, schreibt Bernhard Zeller und sieht im „Wechsel von reflektierendem Bericht und vorwärts drängender Ich-Erzählung“ einen auf Heinrich von Kleist hinweisenden Erzählstil (Bernhard Zeller, Nachwort, in: Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, Stuttgart 1999, S. 74 f.). Schiller verstärkt den distanzierend-neutralisierenden Effekt, indem er dem Leser sogar die Rolle des (Untersuchungs-) Richters zuweist und ihm die Fakten gleichsam zur eigenen moralischen und rechtlichen Entscheidungsfindung vorlegt – für die Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein hochmoderner Ansatz.

Die Zitate sind folgenden Werken entnommen:

– Breucker, Marius (Hrsg.), Schiller für Juristen – Zitate für und wider Recht und Gerechtigkeit –, Scribo Verlag, Steinenbronn 2015;
– Nilges, Yvonne, Schiller und das Recht, Wallstein Verlag, Göttingen 2012;
– Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, Nachwort von Bernhard Zeller, reclam Verlag, Stuttgart 1999;
– Fricke, Gerhard / Göpfert, Herbert G. / Stubenrauch, Hubert (Hrsg.), Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Carl Hanser Verlag, München 1958 f.
Marius Breucker Hrsg Schiller für Juristen

Marius Breucker Hrsg Schiller für Juristen